„Zukunft braucht Herkunft“

WAHRZEICHEN VERSCHWINDET

Das Rathaus bleibt nicht mehr bestehen

Unterdessen war wieder ein Jahr vergangen ohne dass eine Hand an das Rathaus gelegt wurde. Der Verfall griff immer mehr um sich. Nach einem Gutachten des Kreisbauaufsehers war das Gebälk im Mittelstock des Glockenturms angefault, so dass Einsturzgefahr drohte. Nicht besser war es um den keinen Turm bestellt, der von Grund auf umgebaut werden musste. Die nun folgenden Ereignisse sind ein dauerndes hin und her, erregen die Gemüter, verärgern den Kreisrat und schaffen eine Menge Akten, Aber nichts geschieht um dort zu helfen, wo es dringend nötig war: am Rathaus! Ein Umbau schätzt das Kreisamt im September 1873 auf bis zu 2000 Gulden, einen Neubau in quadratischer Form auf 5000 Gulden. Jetzt will der Gemeinderat das Rathaus ohne Seitenturm aufbauen, bittet aber um einen neuen Kostenvoranschlag. Dies verärgerte den Kreisrat, er zieht die bereits genehmigte Genehmigung zum Abbruch zurück und stimmt nur einer Reparatur zu. Gründe: die schlechte wirtschaftliche Lage und die Opposition der Bürgerschaft.

Nun erfolgt seitens des Kreisamtes ein Rückzug. Dort ist man mit einem Neubau einverstanden, weil der Gemeinderat hartnäckig auf eine Änderung des bestehenden Zustands beharrt. Jedoch sollte der Neubau Rathaus in quadratischer Form 6000 Gulden und der Neubau in achteckige Form 7000 Gulden kosten. Über diese Kosten werden nochmals zwei Sachverständige befragt und als von diesen keine günstigeren Nachrichten kommen, beschließt der Gemeinderat in einer stürmischen Sitzung am 4. März 1875 das Rathaus abzubrechen und nicht wiederaufzubauen. In dieser Sitzung greift das Gemeinderatsmitglied Franz Arnoul (Gastwirt) das Kreisamt an, so dass er mit einem Verweis bedroht wurde.

In der Führung der Gemeindegeschäfte trat 1874 eine Änderung ein. Friedrich Lack übernahm den Bürgermeisterposten. Die Bürgermeisterei führte er von 1874 bis 1877, In seine Amtszeit fällt der Abbruch des Rathauses.

Die stürmische Sitzung vom 4. März 1875 verfehlte infolge der Angriffe auf die Autorität des Kreisamtes nicht ihre Wirkung. Das Spiel „rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ beginnt von neuem. Offenbach zieht die Abbruchsgenehmigung zum zweiten Mal zurück und verlangt sofortige Reparatur. Doch der Gemeinderat weigerte sich am 16. Juni 1875 dem Ansinnen des Kreisamtes nachzukommen. Man müsse bald ein neues Schulhaus errichten, das viel Geld koste. Das Rathaus hätte keine Toilette, ein Missstand dem auch durch eine Reparatur nicht abgeholfen werden könne. Auch wäre eine Brunnenverunreinigung nicht so groß, wenn das Rathaus nicht mehr stände.

Wir glauben, so heißt es wörtlich, dabei noch anfügen zu müssen, dass der temporäre Mangel eines Rathauses in unserer Gemeinde keinen Notstand erzeugen würde, weil dasselbe ohnehin schon seit Jahren nicht benutzt wird. Doch das Kreisamt teilt am 3. November 1875 mit nichts unternehmen zu wollen, solange kein einwandfreier Versammlungsort garantiert ist. Weiterhin möchte man wissen, ob der Gemeinderat in vollem Einklang mit dem bei weitem größten Teil der Bürgerschaft steht. Mit Recht konnte der Bürgermeister die Bedenken des Kreisamtes zerstreuen und auf den in Arbeit befindlichen dreistöckigen Schulbau hinweisen. Auch von den Unterschriften seien mehr als die Hälfte zurückgezogen worden.

Das Jahr 1875 ging zu Ende, noch immer gingen die Meinungen seit 1871 hin und her. Es wurde solange diskutiert, bis der Kranke starb. Da Jahr 1876 zieht auf, der Kampf um da alte Wahrzeichen nähert sich dem Ende, nicht ohne vorher nochmals wahrhaft dramatische Formen angenommen zu haben. Auf Betreiben des früheren Bürgermeisters Philipp Schäfer und dem sich die Gemeinderäte Wilhelm Völker, Jean Schäfer und Georg Koch anschlossen, begann schon im November/Dezember 1875 eine Unterschriftensammlung für das Rathaus. 248 Bürger gaben ihre Zustimmung für den Bestand und die Reparatur.  Da der Prophet im eigenen Land
nichts gilt, nahm man als Sachverwalter und Verteidiger den Offenbacher Hofgerichtsadvokaten Dr. Pfeffinger, der in einer Eingabe vom 15. Februar 1876 unter anderem auf den historischen Wert des Rathauses hinwies und es treffend das Wahrzeichen Ysenburgs nannte, dessen Entfernung die Erinnerung an die Gründung und Entstehung des Ortes vernichten würde.

Weiter heißt es in der Verteidigungsschrift, „Unsere Zeit ist so sehr der Gegenwart, dem Materialismus gewidmet, dass man mit allen Kräften danach trachten soll, historische Erinnerungen festzuhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass Jedermann, Fremde sowohl Einheimische, ein wehmütiges Gefühl beschleichen, er eine Lücke empfinden würde, wenn er das Rathaus nicht mehr vorfinden würde.“

 Am 29. März 1876 tritt erneut der Gemeinderat zusammen und nimmt Stellung zu der Eingabe die unter dem Stichwort Beschwerde des Philipp Schäfer und Konsorten, läuft. Diese sei aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen zusammengesetzt. Der Stift des kühlen Rechners siegt über alle moralisch-historischen Bedenken. Die Kosten sind zu hoch, alle Bedürfnisse werden durch Gemeinde-Umlagen bestritten, diese werden so hoch sein, dass sie zwangsweise oder gar nicht eingetrieben werden können. Viele die unterschrieben haben, gehörten nicht dem Bürgerstand an. Der Gemeinderat lehnt jede weitere Haftungspflicht ab, es sollen diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, welche an der Verzögerung schuld sind.

Bei einer vom Kreisausschuss Offenbach anberaumten Ortsbesichtigung brach der dessen Vorsitzender Grolmann durch eine Treppenstufe, wobei er geäußert haben soll, jetzt wird „es“ abgerissen.

Der Gemeinderat beantragt eine Entscheidung, die durch den Kreisausschuss in einer öffentlichen Sitzung am 29. Juni getroffen wurde und in der das Ansuchen des Philipp Schäfer und Konsorten kostenpflichtig abgelehnt wurde. An dieser Sitzung, in der Kreisrat Grolmann den Vorsitz führte. (Bei einer vom Kreisausschuss Offenbach anberaumten vorherigen Ortsbesichtigung brach der dessen Vorsitzender Grolmann durch eine Treppenstufe, wobei er geäußert haben soll, jetzt
wird „es“ abgerissen.)

Von Seiten der Beschwerdeführer nahmen teil: Philipp Schäfer, Georg Koch und Dr. Pfeffinger. Die beklagte Gemeinde war vertreten durch den Bürgermeister Friedrich Lack, den Beigeordneten Luft und die Gemeinderäte Schütz, Passet, Banz, Altstadt, Kleinhans, Söhngen, Arnoul, Wittich und Vollé. Das Urteil geht zuerst auf die vorgebrachten Gründe der Antragssteller ein, um dann festzustellen, dass:

  1. Der Kreisausschuss sich durch Einsichtnahme persönlich von der Baufälligkeit überzeugt habe,
  2. dass die Reparaturkosten von 3300 Mark* im Hinblick auf die unzweckmäßige Einrichtung und höchst unschöne Gestaltung nicht empfohlen werden können,
  3. dass die Kosten eines Neubaus aus Mangel an Vermögen und in Anbetracht des in Ausführung befindlichen Schulhauses, nicht zu tragen sei, da die Gemeinde eine Schuldenlast von 81.000 Mark habe.
  4. dass auch in anderen Gemeinden das Schulhaus für Gemeinderatssitzungen benutzt wird.
 

Mit diesem Urteil waren die Würfel gefallen. Das Schulhaus wurde im Laufe der Zeit Stadthaus. Das alte Rathaus kam zur Versteigerung, in den Akten ist der 30. August angegeben. Ein Bleistifteintrag vom 4. September steht daneben, wahrscheinlich war das von Martin Gensert und Karl Xandry abgegebene Gebot von 200 Mark zu niedrig und man hielt eine zweite Versteigerung ab, bei der Georg Passet und Philipp Kreuzer das Rathaus für 431,50 Mark erwarben. Unter dem 1. Oktober 1876 ist eine vom Beigeordneten und Gemeinderat unterschriebene Einnahme-Anweisung über diese Summe in den Akten vorhanden. Kreuzer, dessen Haus in der Pfarrgasse stand, war ein Schwager von Georg Passet.

Mit dem Abbruchmaterial sind von Kreuzer die Häuser Offenbacher Straße 57/59 erbaut worden Die Kellerläden dieser Häuser sind aus den Ziffernblätter der alten Rathausuhr angefertigt worden. Wie Herr Freudenberger mitteilte, soll die Turmspitze mit der Wetterfahne noch lange Zeit im Schlafzimmer von Philipp Kreuzer aufbewahrt worden sein. Im Hof von Philipp Passet, Ecke Löwengasse und Marktplatz, ist noch heute ein Sockelstein zu sehen, auf dem die Eichenholzsäulen standen. Die Uhr wurde von Uhrmacher Ritzert zusammen mit der großen Glocke auf das Schulhaus gebracht. Er erhielt dafür 330 Mark, fast so viel wie die Versteigerung des gesamten Baues vom Alten Rathaus einbrachte. Zur Aufnahme der großen Glocke musste der Zimmermann Heinrich Schlesinger den Glockenstuhl verstärken, was 121 Mark kostete. Die große Glocke wurde dann auf Befehl des XVII. Armeekorps im ersten Weltkrieg ausgebaut und eingeschmolzen.